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Meine verlorene Familie

Donnerstag, 12. Juni 2008 04:00

Vor gut einem Jahr lief Manuel Biedermann noch ahnungslos an der Sächsischen Straße Nummer 6 in Wilmersdorf vorbei, fast täglich. Er wohnt gleich um die Ecke, jenes Haus war eines von vielen. Er hatte keine Ahnung davon, dass darin einmal seine jüdische Großmutter Judith Sänger gewohnt hatte. Er wusste nichts von ihrer Geschichte.

 

Heute, nach Monaten emsiger Spurensuche, nach akribischem Sammeln und glücklichen Zufällen weiß er, dass Judith Sänger sich 1941 im Alter von 39 Jahren das Leben nahm. Er weiß, dass seine Großmutter von ihrem Vater Julius Berger 1922 enterbt und verstoßen wurde, weil sie einen Nicht-Juden heiratete. Und er weiß, dass Julius Berger, sein Urgroßvater, der Gründer der Julius Berger Tiefbau AG ist, einer von drei Vorläuferfirmen des heute international tätigen Mannheimer Baukonzerns Bilfinger Berger AG.
Bei Julius beginnt die Geschichte. Der hatte mit seiner Frau Flora einen Sohn und vier Töchter. Der 1905 gegründete Betrieb florierte, 1910 siedelte die mittlerweile wohlhabende Familie aus dem damals westpreußischen Bromberg nach Berlin über. Urgroßvater Julius war ein angesehener Unternehmer, später königlich-preußischer Kommerzienrat. 1931 feiert er noch das 25. Jubiläum seines Unternehmens. Doch ab 1933 wurde der Betrieb in der Potsdamer Str. 121 b nach und nach arisiert. "Die Vorstände wurden rausgeekelt und durch Nazis ersetzt", erzählt Biedermann. Julius Berger wurde am 14. September 1941, acht Tage vor seinem 80. Geburtstag, mit seiner Frau Flora vom Bahnhof Grunewald nach Theresienstadt deportiert. "Beide kamen dort 1943 um", sagt Biedermann.
Der 53-jährige Tischlermeister sitzt, während er erzählt, am langen Esstisch seiner Altbauwohnung und sortiert die Lebensläufe seiner Familie. Akribisch hat er in den vergangenen Monaten Daten und Lebensstationen aufgelistet. Jetzt breitet er alle Lebensläufe in zeitlicher Reihefolge aus. "Damit Sie den Überblick behalten."
Detektivische Kleinstarbeit
Das ist nicht einfach, bei dieser Familiengeschichte. Manuel Biedermann hat sich in detektivischer Kleinstarbeit bemüht, alle mühsam aufgefundenen Puzzleteile zu einem Bild seiner Familie zusammenzufügen. Der große Tisch ist übersät mit Papier. Um ein mögliches Erbe geht es Biedermann nicht. "Ich wäre auch aus dem Rennen, weil meine Großmutter enterbt wurde." Es ist das Aufspüren seiner weitverzweigten Wurzeln, was ihn reizt. Er betreibt es mit Leidenschaft. Und Biedermann hat längst Hebel in Bewegung gesetzt, um seinen Urgroßvater Julius, seine Urgroßmutter Flora und seine Großmutter Judith gebührend zu ehren und deren Schicksale öffentlich zu machen.
Er brauchte einen Anstoß, damit er sich dafür interessiert. Erst im vergangenen Jahr, nachdem er zufällig einen Artikel über die "Verfolgung von Nazigrößen in Lateinamerika" gelesen hatte, begann Biedermann mit seiner Spurensuche. "Südamerika - da fiel mir ein, dass da etwas war, das meine Verwandten betraf", sagt er. Tatsächlich, erfuhr er wenig später, waren zwei Schwestern seiner Großmutter 1938 dorthin emigriert. "Ich fing an zu lesen. Es tat sich ein Tor auf. Ich musste mit der Verwandtenforschung beginnen." Erst da wurde es ihm zum dringenden Anliegen. Eigentlich, sagt Biedermann, hätte er 25 Jahre früher damit anfangen müssen. "Doch damals hatte ich kein Herzblut."
Vielleicht hatte sein eigenes Leben ihm dazu keinen Raum gelassen. 1963, mit sieben Jahren, war Biedermann ins Heim gekommen - wegen "sozialer Auffälligkeit", sagt er. Er besuchte die "Hilfsschule", machte später eine Tischlerlehre. In den 70er-Jahren fuhr er durch die Welt, jobbte in Südafrika, London, in der Schweiz und Wien. Kehrte schließlich nach Berlin zurück, in die alternative Szene. Auf die Idee, seine Familie zu erforschen, kam er schlicht nicht. Schließlich hatte er sie kaum kennengelernt. Seine Mutter Ilse, Tochter von Judith Sänger, hatte sich, als er 19 Jahre alt war, das Leben genommen.
Manuel Biedermann ist heute 53, es könnte auch das eigene Älterwerden sein, das zu einem Besinnen auf die Wurzeln führt. "Jetzt, wo ich zugänglicher und weicher geworden bin, ist das etwas anderes", versucht Biedermann zu erklären. Viel geweint habe er, als er die Geschichte seiner Familie erforschte. Seinen nie gekannten Urgroßvater nennt er liebevoll und nicht ohne Respekt "Julius". Spricht von ihm wie von einem verehrten Vater und altem Vertrauten.
"Ich denke an Julius", sagt Biedermann später, beim Besuch des Jüdischen Friedhofs in Weißensee. Als er auf dem Mäuerchen des maroden Mausoleums seiner Urgroßeltern sitzt und von dem Fotografen aufgefordert wird zu lächeln. Das will er nicht. Kein Ort zum Lachen.
Das Mausoleum mit der Erbbegräbnisstättennummer 3579 ist nicht belegt, denn die Urgroßeltern blieben in Theresienstadt. Es liegt direkt neben der Grabstätte der Großeltern von Albert Meyer, dem ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde. Dieser kann sich noch erinnern, dass er, wenn er als Kind das Grab seiner Großeltern besuchte, im Mausoleum der Bergers spielte, das sich diese 1928 hatten errichten lassen. Dass Biedermann von der Grabstätte weiß, ist einem der glücklichen Zufälle seiner Recherche geschuldet. Darauf aufmerksam gemacht hat ihn der Historiker des Baukonzerns Bilfinger Berger, Martin Krauß. "Bei der Erforschung der Firmengeschichte zum 125. Jubiläum von Bilfinger Berger war ich 2005 darauf gestoßen", sagt Krauß. Und über Querverweise war Biedermann auf Bilfinger Berger gekommen. Krauß und Biedermann hatten den Recherchedienst "Fact and Files" in Anspruch genommen, und letztlich führte dieser beide im vergangenen Jahr zueinander.
Der nächste Glücksfall war die Begegnung mit dem Restaurator Robert Dupuis, Mitarbeiter der Firma steinhof.restaurierung, Werkstatt für Steinrestaurierung und Denkmalpflege Berlin. "Als ich von dem Mausoleum wusste, bin ich immer öfter zur Grabstätte gegangen, hab Kerzen aufgestellt und habe auch den Efeu weggenommen", erzählt Biedermann. Aber das war ein fataler Fehler. "Nun wackelte die Seitenwand, klafften Vorder- und Rückseite auseinander." Mit einem Gurt sicherte er das Mausoleum, beauftragte die Firma steinhof.restaurierung mit der Kostenschätzung. Erst vor wenigen Tagen entdeckte Restaurator Robert Dupius im Bauarchiv von Pankow die originalen Bauanträge. Der Restaurierung steht nun nichts mehr im Wege. Denn im Gedenken an einen ihrer Firmengründer wird Bilfinger Berger die Kosten von 15 000 bis 20 000 Euro übernehmen. Im September plant Biedermann zur Einweihung des restaurierten Mausoleums eine Gedenkfeier. "Rabbiner Andreas Nachama wird das Kaddisch sprechen. Albert Meyer und die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Lala Süsskind, sind eingeladen", freut sich Biedermann.
Und seine Großmutter? Sie liegt gar nicht weit entfernt - am Kopfende der Großeltern von Julius Schoeps, dem ehemaligen Vize-Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde. "Als die Friedhofsverwaltung mich anrief und mir sagte, dass es ein Urnengrab Judith Sänger gibt, war ich sehr betroffen. Denn ich war an der Grabstätte bereits mehrmals vorbeigelaufen, ohne es zu wissen", so Biedermann. Für seine Urgroßeltern und seine Großmutter will er jetzt drei Stolpersteine verlegen lassen - in der Meineckestraße 7, der letzten noch freiwillig gewählten Wohnung der Bergers. Und in der Sächsischen Straße 6. Damit auch andere nicht mehr ahnungslos an dem Haus vorbeilaufen, in dem Judith Sänger gewohnt hat.